Agiles Arbeiten, New Work und Mediation
Newsletter 2/2021
Die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, wandelt sich. Themen wie New Work oder Agiles Arbeiten sind in aller Munde und viele Unternehmen - insbesondere in der IT - überlegen, wie sie sich hier weiterentwickeln. Die Idee hinter New Work geht auf Frithjof Bergmann in der Mitte der 70er Jahre zurück und versteht sich als Gegenbewegung zum Kapitalismus: Menschen sind keine Zahnrädchen im Getriebe einer Organisation, die Zeit gegen Geld tauschen, sondern Individuen, die nach Freiheit, Gemeinschaft und Sinn suchen und aktiv beitragen wollen. Das passt gut zu agilem Arbeiten, wo es im Kern darum geht - als Antwort auf eine steigende Komplexität und Dynamik - Mitarbeiter:innen auf allen Ebenen mit einzubeziehen und Verantwortung in kleine selbstorganisierte Teams zu geben, die eng mit Kunden zusammenarbeiten. Gemachte Erfahrungen können und sollen so direkt in Verbesserungen umgesetzt werden.
Mit dieser Entwicklung von der kapitalistischen “Personal Ressource” zur mündigen und selbstverantwortlichen Mitarbeiter:in ist bei Konflikten und Reibungen “Zurück an die Arbeit!” schlichtweg keine Antwortmöglichkeit mehr. Für uns Mediator:innen bedeutet dies zweierlei: ein gesteigertes Interesse an unserer Unterstützung und zusätzliche Kolleg:innen aus eher technischen Bereichen, die sich “plötzlich” im Bereich Mediation und Kommunikation fortbilden und weiterentwickeln wollen.
Wieso wir anders zusammenarbeiten
Um zu verstehen, wieso sich Zusammenarbeitsmodelle verändern, lohnt ein Blick auf das Cynefin Modell von Dave Snowden.
Das Modell platziert Probleme in 4 verschiedene Kategorien:
- einfache Probleme - beispielsweise ein platter Fahrradreifen - sind bestimmt von allgemein bekannten Ursachen-Wirkungszusammenhängen. Hier gibt es typischerweise eine beste Lösung, die zuverlässig angewendet werden kann. Bei der Problemlösung geht es deshalb primär darum, das Problem zu erkennen, zu kategorisieren und darauf basierend zu reagieren.
- umfangreiche technische Systeme - wie ein Flugzeug - bestehend aus vielen Einzelteilen und zahlreichen Wirkzusammenhängen. Probleme dieser Art sind kompliziert. Für Laien sind die Zusammenhänge nicht mehr offensichtlich. Wir können jedoch Experten hinzuziehen, um das Problem zu erkennen, zu analysieren und zu reagieren. Es gibt nicht mehr den einen besten Weg, aber eine ganze Reihe an guten und erprobten Wegen eine Lösung herbeizuführen.
- in komplexen Systemen sind die Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkung nur teilweise bekannt. Eine vollständige Analyse ist nicht mehr möglich, weshalb es notwendig wird, Zusammenhänge in einem sicheren Rahmen auszuprobieren, die entstehenden Veränderungen zu erkennen und darauf basierend zu reagieren.
- chaotische Systeme sind von Unsicherheiten und Turbulenzen geprägt. Planung ist nicht möglich, Muster sind schwer erkennbar und unvorhersehbare Ereignisse prägen das Geschehen. Hier, wie beispielsweise in Notfällen und Krisensituationen, gilt es zunächst zu handeln, Folgen zu erkennen und darauf zu reagieren.
Die Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Systemen sei an dieser Stelle hervorgehoben: In welche Kategorie passt beispielsweise ein Mediationsfall? Sicherlich handelt es sich dabei um ein komplexes Problem. Es ist sicherlich nicht möglich, in Einzelgesprächen und in der Vorbereitung die Konstellation hinreichend zu analysieren, um darauf basierend die passenden Methoden, Techniken und Fragen zu erstellen und zu planen. Als Mediator:innen können wir hingegen ein Gefühl für den Gesprächsverlauf und notwendige Interventionen entwickeln. Es gilt, basierend auf unserer Erfahrung, eine Methode auszuprobieren, möglichst rasch zu erkennen, ob dadurch die Mediation positiv beeinflusst wird und entsprechend nachzuschärfen oder zu korrigieren.
Versuchen wir komplexe Probleme mit “alten” Methoden zu lösen?
Viele aktuelle Formen von Zusammenarbeit in Organisationen sind geprägt von der industriellen Revolution (Taylorismus) und fokussieren auf das Lösen von komplizierten Problemen. Klassische Organisationen streben nach ausgereiften Plänen und Analysen, nach klaren Zeitschienen und nach einer organisatorischen Trennung von Expert:innen und ausführenden Personen. Dieser Ansatz ist jedoch für viele der aktuellen Herausforderungen in Unternehmen ungeeignet. Moderne Systeme bestehen aus unzähligen Komponenten, die selbst für Experten nicht mehr überblickbar sind. Technologien und Märkte ändern sich in einer stetig zunehmenden Geschwindigkeit, wodurch Projekte durch Lernprozesse überlagert sind und oft ein sich veränderndes Ziel verfolgen. Diese Art von komplexen Systemen erfordert eine neue Art der Zusammenarbeit.
Agiles Arbeiten und New Work sind ausgerichtet auf das Lösen komplexer Probleme bzw. solcher an der Grenze zwischen kompliziert und komplex. Im Kern ist ein agiles Vorgehen ein schrittweises Vorgehen, welches empirisch gemachte Erfahrungen zur Grundlage von Entscheidungen macht. Es geht stets darum, Feedbackzyklen zu verkürzen: Ein minimal-viable-product (MVP) versucht die Zeit bis zur Markteinführung zu verkürzen, um möglichst früh echte Kundenrückmeldungen zu erhalten. In Scrum - einem typischen Vorgehensmodell - arbeiten Teams in 2-wöchigen Zyklen (sogenannte Sprints) und besprechen im “Daily” täglich das weitere Vorgehen. In Entscheidungen geht es stets um die Fragen:
- 1. Welche Erfahrungen haben wir gemacht? Was haben wir bisher gelernt?
- 2. Welchen nächsten (sicheren) Schritt können wir gehen? Wie können wir unsere gemeinsame Lernkurve maximieren?
Dies erfordert eine deutlich engere und offenere Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter:innen. Unterschiedliche Meinungen, Eindrücke und Erfahrungen müssen willkommen geheißen werden. Der nicht vorhandene “beste” Weg eröffnet die Diskussion über viele mögliche Wege. Die Chef:in ist nicht Expert:in und Entscheider:in, sondern nur eine Stimme in einem Team, in dem ganz unterschiedliche Personen Erfahrungen gesammelt haben, die als Datenpunkte in die (nächste) Entscheidung einfließen müssen. Für die Unternehmenskultur bedeutet dies einen Wandel weg von Kontrolle und Konkurrenz und hin zu Kollaboration und Kreativität. Einen Wandel wie ihn zum Beispiel das Competing-Values-Framework veranschaulicht.
Mediation und Agilität
Wir Mediator:innen können insbesondere an zwei Stellen unterstützen: Als Begleiter:in in der Veränderung und als Berater:in beim Aushandeln und Vereinbarmachen unterschiedlicher Eindrücke.
Zunächst verstehen wir Veränderungsprozesse. Wir können vokalisieren, was es für einen 55-jährigen Chef bedeutet, plötzlich nicht mehr zu entscheiden, sondern mit seinem Team kollaborativ zu entdecken. Oder wie es sich für Personen anfühlt, wenn Rollenbeschreibungen verändert und Verantwortlichkeitsbereiche neu geschnitten werden. Insbesondere die initiale Einführung agiler Arbeitsmethoden bringt erhebliche Veränderungen und Spannungen mit sich. Viele gewinnbringende Erfahrungen - sowohl im System als auch mit Analyse und Planung - können und sollen beibehalten werden; und gleichzeitig gilt es Experimente, Feedback-, Diskussions- und Lernprozesse stärker zu gewichten und in die Team- und Unternehmenskultur zu integrieren.
Aber auch nach einer agilen Transition verändern sich Organisationen stetig weiter. Teams sind in der täglichen Arbeit stets gefordert, die diversen Eindrücke aller miteinander zu verbinden, zu kollaborieren und kreativ zu sein, damit das weitere Vorgehen ausgehandelt und vereinbart werden kann. Beispielhaft hierfür sind Retrospectiven und Post-Mortem-Analysen.
In Retrospectiven besprechen Teammitglieder alle 1-4 Wochen, wie sie ihre Zusammenarbeit verbessern können. Wie ging es jedem Einzelnen in der letzten Iteration? Was hat gut geklappt und wo sind Verbesserungspotenziale? Ausgehend von den ganz individuellen Eindrücken gilt es, Zusammenhänge zu identifizieren und ganz konkrete nächste Schritte abzuleiten.
Post-Mortem-Analysen finden hingegen nicht regelmäßig, sondern nach Bedarf statt. Nach Fehlschlägen, z. B. einem Systemabsturz oder einem fehlgeschlagenem Produktstart, kommen alle Beteiligten zusammen, um das Geschehene zu analysieren und daraus zu lernen. Wo gab es technische Herausforderungen? Wo war die Kommunikation kontraproduktiv? Wo waren Personen überfordert oder hätten zusätzliche Unterstützung gebraucht? Dabei geht es idealerweise nie darum, die Schuldfrage zu klären, sondern das System als Ganzes zu verbessern.
Auch wenn die Begrifflichkeiten hier andere sind und der Einstiegspunkt für ein Gespräch oder eine Diskussion oft technischer ist, so geht es doch im Kern meist um Themen der Zusammenarbeit und somit um einem Kernthema für uns Mediator:innen: Gespräche zu begleiten, sodass die Beteiligten gemeinsam einen guten Weg für die zukünftige Zusammenarbeit finden.
Alexander Teibrich ist als Agiler Coach im Bereich Team- und Organisationsentwicklung aktiv. Seit seiner Mediationsausbildung bei klären & lösen bietet er zudem Mediationen in Potsdam an.
Podcast zum Thema
Alexander Teibrich im Gespräch mit Kristin Kirchhoff