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Krisen und Chancen

Du hast die Wahl | Newsletter 2/2025

In einer Welt, die ständig im Wandel ist, stehen wir oft vor Krisen und Chancen, die unser Leben beeinflussen. Doch warum nehmen Menschen diese Situationen so unterschiedlich wahr? Während die einen in Krisen eine Bedrohung sehen, erkennen andere darin eine Möglichkeit zur Veränderung und zum Wachstum. Psychologische Faktoren, persönliche Erfahrungen und kulturelle Hintergründe spielen eine entscheidende Rolle bei dieser Bewertung. In unserem Artikel beleuchten wir die verschiedenen Perspektiven und die zugrunde liegenden Mechanismen, die unsere Wahrnehmung prägen.

In einem Beitrag der Schriftstellerin Gabriele von Armin auf Instagram habe ich vor einiger Zeit etwas sehr Interessantes gelesen. Nämlich, dass in der chinesischen Schriftsprache die Zeichen für „Krise“ und „Chance“ identisch sind. Diese Vorstellung hat mich nicht mehr losgelassen. Stark vereinfacht bedeutet dies, dass etwas, was der eine als Krise erlebt, für die andere eine Chance sein kann. Woher rühren diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und wie lassen sich diese verändern? In der Mediation begegnen uns täglich Menschen, die sich selbst in einer krisenhaften oder zumindest belastenden Situation erleben. Sie sehen sich ohnmächtig gegenüber einer Krise, da es ihnen im Moment nicht gelingt, sich mit ihren Ressourcen zu verbinden. Menschen, die in der Vergangenheit positive Erfahrungen mit Veränderungen gemacht haben, sind oft eher geneigt, neue Herausforderungen als Chancen zu sehen. Umgekehrt können negative Erfahrungen dazu führen, dass jemand in ähnlichen Situationen eher Angst oder Stress empfindet.


Die Frage nach dem halbvollen Glas

Die menschliche Fähigkeit, Ereignisse als Krisen oder Chancen zu bewerten ist eine wichtige, von der Evolution angelegte Überlebensstrategie. Dabei spielen psychologische, soziale und kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle. Zu den psychologischen Faktoren zählen aus unserer Sicht drei Dinge. Wie ist unsere Sicht auf die Welt geprägt? Ist das Glas halbvoll oder halbleer oder das Gras tatsächlich immer grüner auf der anderen Seite des Zauns? Der Fachbegriff dafür ist kognitive Verzerrung. Wir Menschen nehmen Information erstens selektiv wahr und zweitens bewerten wir ein und dieselbe Sache innerhalb von Millisekunden ganz unterschiedlich. Jemand, der in einer Krisensituation ist, könnte sich auf die negativen Aspekte konzentrieren und die Chancen, die sich bieten, übersehen. Was ihn oder sie davor schützen kann, und das wäre der zweite Faktor, ist Resilienz. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, sich von Rückschlägen zu erholen. Menschen mit hoher Resilienz fällt es leichter, Krisen als Chancen zu sehen. Das kommt daher, dass sie über Strategien verfügen, um besser mit Stress umzugehen und es ihnen leichter fällt, Lösungen zu finden. Der Markt der Ratgeberbücher zur Förderung von Resilienz ist grenzenlos. Ein entscheidender Punkt scheint mir dabei eine gute Selbstfürsorge zu sein und ein eigener Wertekompass, der mir hilft, die für mich richtigen Prioritäten zu setzen. Bei Resilienz gibt es meines Erachtens kein „richtig oder falsch“

Der dritte Faktor ist die emotionale Intelligenz. Die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen zu erkennen und zu steuern, spielt eine entscheidende Rolle. Menschen mit hoher emotionaler Intelligenz können besser mit Stress umgehen und sind oft in der Lage, in Krisen die positiven Aspekte zu erkennen. Sie können auch empathischer auf die Bedürfnisse anderer reagieren, was die Wahrnehmung von Krisen beeinflussen kann. Gerade der letzte Punkt ist für uns in der Mediation oder im Coaching entscheidend. Der Perspektivwechsel ermöglicht im wahrsten Sinne des Wortes, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten und neu zu bewerten. Darüber hinaus ist unsere Haltung gegenüber Chancen und Krisen auch das Ergebnis von Erfahrungen, Erziehung und der jeweiligen Lebenssituation. Die Lebenssituation ist besonders stark davon abhängig, wie verbunden sich Menschen mit ihrem sozialen Umfeld fühlen. Ein starkes soziales Netzwerk kann helfen, Krisen als weniger bedrohlich zu empfinden. Wenn Menschen Unterstützung von Freunden, Familie oder Kollegen erhalten, sind sie oft besser in der Lage, die positiven Aspekte einer Krise zu erkennen oder (vermeintliche) Chancen zu bewerten. Außerdem spielt die Verarbeitung von krisenhaften Situationen eine große Rolle. War „ich“ nur eine Schachfigur in der Krise und war dieser völlig ohnmächtig ausgesetzt? Oder ist es mir gelungen durch eigenes Handeln die Krise zu gestalten, wenn auch nicht unter optimalen Bedingungen? Jemand, der in der Vergangenheit aus einer Krise gestärkt hervorgegangen ist, wird eher geneigt sein, auch zukünftige Herausforderungen als Chancen zu betrachten. Umgekehrt kann eine negative Erfahrung dazu führen, dass jemand in ähnlichen Situationen eher pessimistisch ist.


Auf die Sichtweise kommt es an

Die Fähigkeit, in Krisen Chancen zu erkennen, ist also eine wichtige Lebenskompetenz. Gleichzeitig ist es aber ganz natürlich bei einer Krise erst einmal in eine Art Schockstarre zu verfallen, traurig oder verzweifelt zu sein und die Krise nicht liebevoll zu umarmen. Oft kann es sogar hilfreich sein, sich in den negativen Gefühlen so richtig zu suhlen. Nur man sollte versuchen, sich nicht überwältigen lassen. Dabei kann die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Situation helfen, neue Perspektiven zu gewinnen und sich auf die eigenen Stärken und Talente zu besinnen. Gespräche mit vertrauten Personen können helfen, womit wir wieder bei den sozialen Netzwerken wären. Aber wenn ich jetzt dazu neige, Probleme mit mir selbst zu klären, bevor ich in die Klärung mit anderen gehe, kann mich Journaling dabei unterstützen neue Einsichten zu gewinnen. Positives Denken, das ist nicht überraschend, kann dazu beitragen – auch in einer Krise – eher nach Lösungen zu suchen. Nun lässt sich Positives Denken nicht verordnen, aber erlernen. Eine Methode dafür stammt von Luc Isebart. Er hat drei Fragen für ein glückliches Leben entwickelt, deren Beantwortung er in Form eines Tagebuchs für einen längeren Zeitraum empfiehlt:

Was diese Übung bewirken kann, ist, dass sie uns ganz sanft in einen Perspektivwechsel hineinführt. Auch wenn der Blick gerade sehr stark auf ein krisenhaftes Erleben hin ausgerichtet ist, schafft die Fokussierung auf positive Erlebnisse – und es können wirklich kleine Dinge sein - eine Veränderung.


Ziele setzen hilft

Viele Wege führen bekanntlich nach Rom und noch mehr aus der Krise. Das Setzen von klaren Zielen kann Menschen dabei helfen, sich auf das Positive zu konzentrieren. So ist es leichter, die Schritte zu planen, die notwendig sind, um aus einer Krise herauszukommen. Wichtig dabei sind kleine Schritte. Denn nichts ist demotivierender als Rückschläge auf dem Weg aus der Krise. Als Coach oder Mediator arbeite ich hier gerne mit der Frage: „Was ist der erste kleine Schritt, den Sie gehen möchten, um Ihr Ziel zu erreichen?“

Als Mediator:innen wissen wir, dass Medianten Krisen und Chancen oft ganz unterschiedlich empfinden und es in der Bewertung der Situation oft zu Spannungen kommt. Hier ist es unerlässlich zu spiegeln und zwar auf einer tieferen Ebene. Neben den Worten müssen die dahinterliegenden Ängste, Bedürfnisse und Hoffnungen benannt werden, um so behutsam den Perspektivwechsel einzuleiten.

Es ist die Aufgabe der Mediator:innen die Mediant:innen dabei zu unterstützen, ihre Wahrnehmungen klar zu formulieren. Oftmals entstehen Konflikte, weil eine Partei die Sorgen oder Hoffnungen der anderen nicht nachvollziehen kann. Die Botschaften des Gegenübers unterliegen unwillkürlich einer eigenen Bewertung der Situation. Durch die Klärung der Bewertungen können die Klienten besser erkennen, warum der jeweils andere so empfindet.

Eine Technik, die sich hier besonders eignet ist das „Reframing“: Die Mediator:innen haben die Möglichkeit, die Aussagen der Klient:innen in eine positivere oder neutralere Sprache umzuwandeln. So kann jeder die Argumente des anderen unter einem anderen Blickwinkel wahrnehmen. Wichtig hierbei ist es, auf Gemeinsames zu achten und nicht auf Trennendes. Das Arbeiten mit Klient:innen, die Chancen und Krisen völlig unterschiedlich bewerten, erfordert Geduld, Empathie und ein tiefes Verständnis für die emotionalen und kognitiven Prozesse, die hinter diesen Bewertungen stehen.

Ebenfalls las ich in diesen Tagen auf Instagram einen Post, der besagte „365 Tage – 365 Möglichkeiten“. Keine Krise dauert ewig und gleichzeitig führt auch eine verpasste Chance nicht automatisch in eine Krise. Es kann sich auch als glückliche Fügung erweisen. Wichtig ist, wie wir mit Krisen umgehen: achtsam, mit großer Selbstfürsorge und einem wachen Blick für unsere eigenen Ressourcen. Und mit Chancen? Nutzen wir Sie und bleiben offen für Entwicklungen.

(Jörn Valldorf)


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