Mediative Kompetenzen als Reiseleiter
Newsletter 1/2014
Meine letzte Reiseleitung durch Darjeeling, Sikkim, Bhutan und Assam möchte ich zum Anlass nehmen, um über meine Erfahrungen mit mediativen Kompetenzen in der Reisebranche im interkulturellen Kontext zu berichten. Dabei habe ich auch Begebenheiten aus früheren Reisen eingeflochten, um das Thema dichter zu beschreiben.
In der ersten Phase einer Mediation geht es in erster Linie ja um die Bildung eines Arbeitsbündnisses und damit einhergehend um die Herstellung einer gemeinsamen Beschreibung des Arbeitsauftrages. Damit zusammenhängend gilt es auch Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmer/innen zu klären. Meine Teilnehmer/innen kamen aus Australien, USA, Spanien, Deutschland und der Schweiz und hatten bei unterschiedlichen Veranstaltern gebucht. Im Rahmen der Auftragsklärung und der Reiseplanung war es extrem wichtig zu erfahren, mit welchen Vorstellungen sie die Reise gebucht und angetreten hatten. Lag das Hauptinteresse beim Motorradfahren oder beim Sehenswürdigkeiten besichtigen, regionale oder internationale Gerichte zu probieren, mehr Stadt oder mehr Land zu erleben, lange Fahrzeiten mit vielen Stopps und Pausen zu haben oder früh am Hotel anzukommen usw. Es galt einen roten Faden innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu finden, mit dem alle Teilnehmer/innen einverstanden waren, wie auch besondere Wünsche Einzelner zu beachten und einzuplanen. So war ich wie in einem Mediationsverfahren verantwortlich für den festgelegten Rahmen der Reise und unterstützend tätig für die Gestaltung der täglichen Etappen, soweit diese dies zuließen.
Eine klare, transparente und verständliche Kommunikation mit den Teilnehmer/innen half Missverständnissen vorzubeugen und erleichterte den täglichen Ablauf. Wenn z.B. die Route und das Tagesprogramm am Morgen nicht klar kommuniziert wurden, konnte es zu aufwändigen Suchaktionen nach einzelnen Teilnehmer/innen oder zu empfundener Hilflosigkeit in schwierigen Situationen kommen. Auch im Mediationsverfahren können sich die Medianten schnell „verlaufen“, wenn ihnen nicht erklärt wurde, wie das Mediationsverfahren ablaufen wird und was sie erwartet.
Die in der zweiten Phase wichtigen Kommunikationstechniken wie gut zuhören, nachfragen, spezifizieren und zusammenfassen haben im interkulturellen Kontext eine ganz besondere Bedeutung. Denn manches, was ich gehört und wohl auch verstanden hatte, entsprang zwar der Wirklichkeit desjenigen, der es gesagt hatte, musste aber lange nicht mit der meinigen übereinstimmen. Ein “natürlich ist das Dinner gleich fertig“ konnte auch heißen: In den nächsten drei Stunden sollte es klappen. Ein „erst rechts und nach 200m links“ konnte auch heißen: Ich weiß es eigentlich nicht, möchte aber gerne weiterhelfen. Wenn in solchen Fällen nicht genau nachgefragt und Detailwissen abgefragt wird, welches darauf schließen lässt, dass eine Aussage mit meiner Einschätzung übereinstimmt, fallen manche Entscheidungen falsch aus. Andere Beispiele waren: Das Zimmer ist sauber; es ist genug für alle da; das wird rechtzeitig erledigt oder das Bier ist doch kalt. Bier gilt zum Beispiel oft schon als kalt, wenn es nicht warm ist. Also muss genau nachgefragt und spezifiziert werden wie kalt das Bier ist, z. B. „im Vergleich zu“ oder „kalt wie Eis.“
Dass verschiedene Wahrheiten nebeneinander existieren, begegnet uns in der Mediation häufig, allerdings selten in einer Person. So wird durchaus etwas zugesichert, was nicht eingehalten wird, ohne daran etwas Ungewöhnliches zu finden. Dies liegt oft daran, dass das Versprochene gar nicht eingehalten werden kann, dieses Hindernis aber aus unterschiedlichen Gründen (Geld/Materialmangel, drohender Gesichtsverlust, Verwandte wollen das nicht usw.) nicht kommuniziert wird. Ein wunderschönes Hotel hatte z. B. sieben lautstarke Wachhunde. Wir baten darum, die Hunde nicht vor den Schlafzimmern bellen zu lassen. Mit vollstem Verständnis wurde zugesichert, dies umgehend zu ändern. Dieses Verständnis inklusive dem Änderungswillen hielt mehrere Tage an, doch die Hunde bellten weiter. Nach unserer Abreise vermittelte mir unser lokaler Reiseleiter, dass es gar nicht die Hunde des Hoteliers waren, sondern dessen Onkel gehörten, der in der Hierarchie über ihm steht und er somit nicht handlungsfähig war.
Wie auch in der Mediation ist das aktive Zuhören das wichtigste mediative Handwerkszeug, das auf den Touren fast täglich zum Einsatz kam. Kleine Differenzen ließen sich damit einfach bearbeiten: („Willy, ich wollte nicht in Bhutan begraben werden.“ „Die Straße mit dem Lastwagenkonvoi war heute eine große Herausforderung für Sie und Sie hätten sich gewünscht, dass wir etwas langsamer gefahren wären?“) Aber auch bei größeren Konflikten war das aktive Zuhören die erste Wahl, gepaart mit gezielten Ich-Aussagen, wie wir sie aus der Gewaltfreien Kommunikation kennen.
Nach einer extrem schwierigen Situation (schlafende Kühe auf der Straße, Rikschas von links, rechts, hinten und vorne, LKWs, störrische Ochsenkarren, kein Sichtkontakt zu den Anderen, Sandsturm und lautes Gehupe) an einer vielbefahrenen Kreuzung in einem kleinen Dorf fuhr Max, ein Teilnehmer, blindlings mit hoher Geschwindigkeit von dannen. Als ich ihn einholte, warf er seinen Helm auf den Boden, schrie mich an und beschimpfte mich lautstark. Ich weiß nicht, wie ich ohne Mediationsausbildung reagiert hätte, aber anscheinend habe ich in dieser Situation alles richtig gemacht, sagt zumindest sein Feedback am Ende der Reise. Ich spiegelte seinen Wutausbruch, hörte zu, fasste zusammen und bot ihm an am Abend in Ruhe über den Fall zu sprechen, was wir dann auch taten.
Interessant war, dass auch hier die schwierige Straßensituation der Auslöser von Max Attacke war, die Ursache aber woanders lag, genau wie in manchen Mediationen, wo Konflikte nur stellvertretend für tiefergehende Probleme an die Oberfläche kommen. In der Regel stehe ich immer ca. eine Stunde früher auf als alle anderen Teilnehmer/innen, um diverse Sachen zu organisieren. Das heißt, dass ich in der Regel den ersten Kaffee noch vor allen Anderen bekomme und trinke. Max, kaffeesüchtig und Frühaufsteher, hat das hin und wieder mitbekommen und fand das als Amerikaner mit einem anderen Verständnis von Dienstleistung unmöglich. Sein Ärger baute sich langsam über Tage auf. Am besagten Morgen saßen wir alle beim Frühstück und der Kellner wusste nicht mehr, ob Kaffee oder Tee in seiner Kanne war. Ich opferte mich und sagte: „Gießen Sie ein, mir ist egal was ich trinke.“ Damit brachte ich für Max das Fass zum überlaufen, da ich in seinen Augen sogar in der großen Runde den ersten Kaffee für mich beanspruchte. Der Verkehr, auf den er sich schlecht vorbereitet fühlte, ließ seine Stimmung dann eskalieren.
Manche Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden sollten, waren nicht einfach mit dafür oder dagegen zu beurteilen. Hier hat es sich für mich bewährt, skalierte Fragen zu stellen, um ein differenzierteres Stimmungsbild zu erhalten. Sogar zirkuläre Fragen probierte ich aus, um einen Perspektivwechsel anzuregen: „Was glauben Sie, was Holger sagen würde, wenn ich ihn darauf anspräche, dass Sie manchmal den nötigen Sicherheitsabstand zu ihm nicht immer einhalten?“
Gerade am Anfang einer Mediation kann es hilfreich sein, schon kleine getroffene Vereinbarungen zu loben, z. B., dass sich die Medianten auf die Mediation eingelassen und auf ein gemeinsames Thema geeinigt haben. Das kann die Motivation den Mediationsprozess anzugehen fördern und durchbricht den Kreis der konfrontativen Haltung. Das Gegenteil wurde im folgenden Fall erreicht. Nach einer Einstiegstour mit der neuen Gruppe fuhren wir am Ende des Tages einen etwas steileren Off-Road-Hang hinunter. Wieder am Hotel angekommen wollte ich gerade aufmunternd erwähnen, dass alle den ersten Tag super gemeistert hätten und auch das letzte Stück keine große Herausforderung war. Doch mein Co-Reiseleiter kam mir zuvor und sagte: „So, wem das jetzt schon schwierig vorkam, sollte sich noch mal überlegen, ob er sich die große Tour zutraut.“
Immer wieder gut beobachten konnte ich die Teamphasen nach Tuckman (Forming – Stroming – Norming – Performing). Leider reichen die zweiwöchigen Touren in der Regel nicht aus, um die Performing-Phase ausgiebig zu genießen, allerdings wird sie zumeist in den letzten zwei bis drei Tagen von allen wahrgenommen und wirft dadurch ein gutes Licht auf die gesamte Reise. Spannend war zu beobachten, dass die Forming-Phase bei heterogenen Gruppen wesentlich länger dauerte als bei sehr homogenen Gruppen. Bei Gruppen, deren Mitglieder aus den unterschiedlichsten Ländern kamen, dauerte die Forming-Phase oft so lange, dass oftmals gar keine Zeit für die Storming-Phase blieb. Auf der anderen Seite kann mit einer Gruppe, die sich vielleicht sogar schon vorher gekannt hat, sehr schnell die Performing-Phase erreicht werden.
Am Ende einer Reise lege ich gerne eine Time-Line und lasse die Reise mit ihren Höhepunkten Revue passieren. Nach anfänglicher Skepsis der Teilnehmer/innen ihre Erlebnisse in dieser Art und Weise zu beschreiben wird diese Technik nach kurzer Zeit gerne angenommen und es entwickelte sich immer ein für alle spannender Abschluss.
(Wilhelm Eßer)