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Was erlaubst du dir denn eigentlich?

wie wir eigenes Fehlverhalten rechtfertigen | Newsletter 4/2025

Im Konflikt zeigen wir nicht unsere Schokoladenseite. So gerne wir uns selbst als warmherzig, großzügig und zugewandt sehen, wir können auch anders. In Konflikten zeigen wir unsere anderen Möglichkeiten: Wir können auch kalt, kleinlich und nachtragend sein. Und zum Teil tun Menschen in Konflikten Dinge, die anderen schaden, sie vor Kolleg:innen, Freuden oder der Familie bloßstellen oder diffamieren, oder tun ihnen sogar Gewalt an. Und das, obwohl wir alle wissen, dass sich das nicht gehört. Es wirft kein gutes Licht auf uns, wenn wir uns nicht an die üblichen Regeln des Zusammenlebens halten, gleichwohl passiert es aber. Da es uns ja bewusst ist, was gesellschaftlich als angemessen angesehen ist und was nicht, wir es mehr oder minder alle in unserer Sozialisation mitbekommen haben, wäre die Frage, wie wir es vor uns und anderen rechtfertigen, wenn wir gegen gesellschaftliche Normen des guten Umgangs verstoßen.

David Graeber hat einmal geschrieben, dass wir als Menschen eigentlich miteinander im Kommunismus leben. Wir geben anderen Dinge, Freundlichkeiten, Hilfe oder Gefälligkeiten, ohne dass wir dafür eine Gegenleistung erwarten. Zumindest nicht von konkreten Personen. Es ist vielmehr ein fortwährender Austausch: Ich sage ein nettes Wort zu einem anderen Fahrgast in der U-Bahn, bekomme ein Lächeln der Kollegin, bringe zuhause den Müll runter und irgendwer gibt mir eine Auskunft in einer fremden Stadt. Das Leben ist ein steter Fluss im Austausch von Dingen, die wir füreinander tun.

Mit bestimmten Personen –oder, wenn es wirklich tragisch wird, der Welt gegenüber, stellt sich das Gefühl der Ungerechtigkeit ein. Wir fühlen uns übervorteilt und sinnen auf Ausgleich. Ausgleich bedeutet, ich habe etwas getan, das muss jemand honorieren. Es ist nicht mehr der Modus einer Freundlichkeit der Welt gegenüber, sondern ein Modus des Rechnens. Was habe ich gegeben, was du? Während die Interaktionen im Kommunismus-Modus potenziell ewig fortsetzbar sind, ist der Modus des Austausches endlich. Ich habe dir 100 Euro geliehen, du hast sie mir zurückgegeben, wir sind quitt und müssen nichts mehr miteinander zu tun haben. Auf der Ebene von Geld usw. ist das wunderbar, auf der Beziehungsebene unschön. Nichts mit Flow! Ausrechnen bedarf der Energie. Teams, die in diesem Modus sind, sind in keinem guten Zustand. Und für die einzelnen fühlt es sich nicht gut an. Als Menschen sind wir mehr im Kommunismus-Modus zuhause, es macht uns glücklich und zufrieden, wenn andere auch glücklich und zufrieden sind.

Wie oben schon beschrieben, erleben wir Personen, die sich – zeitweilig – außerhalb der angemessenen Umgangsweisen bewegen, außer sich sind. In der Terminologie von Graeber wäre das der Kampf. Diesen führen wir, wenn wir den eigentlichen Modus Operandi des Zusammenlebens verlassen haben und das Vertrauen in den oder die anderen so gering ist, dass noch nicht einmal Tausch möglich scheint. Mein Ex hat mich so oft betrogen, nun reicht es mir nicht, wenn wir unseren Besitz fair teilen, er soll im Rosenkrieg leiden. Die ehemalige Kollegin, die darauf aus ist, der Welt mitzuteilen, wie schlimm ihr ihr ehemaliger Arbeitgeber mitgespielt hat und nun auf Rache aus ist.

Wir alle kennen die Spielregeln: du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht schlecht über andere reden usw. Und trotzdem passiert es. Nur wie rechtfertigen wir dies vor uns und anderen? Wie bekommen wir das hin, das unangenehme Gefühl zu verringern, welches durch die Diskrepanz zwischen dem eigenen Verhalten, den eigenen Werten und Überzeugungen entsteht. Hier, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, ein paar mögliche Strategien.


Strategien

Die eigene Handlungsfähigkeit abwerten, sich als Opfer fühlen
Als Opfer der Verhältnisse oder der Machenschaften des oder der anderen oder einfach auch nur des Systems muss ich mich wehren. Und der Zweck heiligt bekanntermaßen ja die Mittel. Ich als die Person, der Unrecht angetan wurde, die schon wieder übersehen wurde, habe das Recht mich zu wehren. Wir alle wissen, das sich lästern nicht gehört, aber schlecht über den Chef reden ist was anderes. Nach Allem, was er uns angetan hat. Oder weil wir ja wissen, wie Chefs im Allgemeinen so sind.

„Jeder macht es“ – Normen anpassen
Eine häufige Rechtfertigung ist die Argumentation, dass andere ebenfalls Fehler machen oder sich genauso verhalten. Dies führt zu einer Normalisierung des Fehlverhaltens: „Alle tun das, also ist es nicht so schlimm.“ So kann sich das Fehlverhalten als Teil der gesellschaftlichen Norm oder sogar als „akzeptabel“ darstellen.

Gegenseitige Bestätigung
Wir lieben Bestätigung. Auch wenn ich eigentlich weiß, dass mein Verhalten anderen gegenüber nicht in Ordnung ist, wenn ich andere finde, die mich in meinen Verhalten bestärken, hilft mir das, es vor mir zu rechtfertigen. Die anderen finden ja auch, dass die Person „schwierig“ ist.

Zustimmende Kommentare oder Likes im Social Media erfüllen eine ähnliche Funktion. Je mehr Zustimmung ich erfahre, umso mehr fühle ich mich im Recht.

Externe Faktoren
Häufig suchen wir nach externen Ursachen oder anderen Menschen, die für unser Verhalten verantwortlich gemacht werden. Diese Form der Rechtfertigung ist eine Art, Verantwortung zu verschieben. Zum Beispiel könnte man sagen: „Das war der Stress in meinem Job“ oder „Das hat mich einfach so sehr wütend gemacht, dass ich nicht anders handeln konnte.“

Selbsttäuschung
Menschen neigen dazu, ihre eigene Rolle in einem Fehler zu minimieren oder die Situation so zu interpretieren, dass sie sich selbst in einem besseren Licht sehen. Ein klassisches Beispiel ist, dass wir uns einreden, dass unser Fehlverhalten unvermeidlich war oder dass wir in der gegebenen Situation keine andere Wahl hatten. Und dass unsere Handlung lediglich eine Reaktion auf etwas war, was wesentlich schlimmer war.

Verharmlosung
Eine weitere Strategie ist es, das Fehlverhalten zu verharmlosen und zu sagen, dass es keinen großen Schaden angerichtet hat oder dass es nicht so schlimm war, wie es vielleicht scheint. Zum Beispiel könnte man sich selbst sagen: „Es war nur eine kleine Lüge“ oder „Es war nicht so wichtig, was ich getan habe.“


Und nun?

Wir können andere nicht ändern oder deren Verhalten bestimmen. Alle machen zu jeder Zeit das Beste, was sie können, auch wenn das objektiv nicht so ist, weil sie sich und anderen mit ihrem Verhalten schaden.

Es ist leichter gesagt als getan, aber am besten ist es, nicht über die Stöckchen zu springen, die einem hingehalten werden und damit die Angebote zu destruktivem Verhalten, die uns gemacht werden, nicht anzunehmen. Der Kollege, der sich als Opfer wähnt, nicht retten wollen, die unangemessenen Vergleiche und Relativierungen zurückzuweisen usw. Dafür müssen wir aber, gerade wenn es uns selbst betrifft, ziemlich gut bei uns sein, uns nicht triggern lassen und die Strategien als Strategien erkennen. Mir gelingt das nicht immer – leider.

(Michael Cramer)


(Der Text als PDF)